20. Januar 2016 im Roswitha-Gymnasium Bad Gandersheim, zu sehen: ein normaler Schultisch, darauf ein Stuhl. Auf dem Stuhl thronend ein Schüler, der einem anderen in Gesten und Mimik Befehle erteilt.

 Hinter ihnen eine wacklige Stellwand; ein weiterer Schüler hält hier ein Pappkreuz in der Hand. Um sie herum Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse des Roswitha-Gymnasiums in Bad Gandersheim. Eine Erzählerin klärt das Publikum auf: Wir befinden uns nicht etwa in der Schule, sondern in einer Szene mitten in der Vorhölle. Sie spielt in der Zeit nach der Kreuzigung Christi, der nach seinem Tod in die Unterwelt fährt. In der Hölle debattieren Luzifer und Satan, der Höllenfürst und sein Vogt. Sie haben Zeichen vernommen, dass ein gewisser Jesus die Hölle zerstören wird. Unruhe breitet sich aus.

Was sich für den modernen Zuschauer merkwürdig anhört, war für ein mittelalterliches Theaterpublikum Normalität: in zahlreichen geistlichen Spielen des Mittelalters kommen Stationen der Heilsgeschichte zur Aufführung, darunter Passion, Kreuzigung und Auferstehung, aber auch die heute nicht mehr allzu gegenwärtige Höllenfahrt Christi. Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse des Roswitha-Gymnasiums wurden am vergangenen Donnerstag in einem ganztägigen Seminar mit Formen des vormodernen Theaters vertraut gemacht. Sie haben Vorträge gehört, Ausschnitte aus Neuaufführungen mittelalterlicher Spiele gesehen, Hörbeispiele aus einer Passionsspiel-App gehört – und sie haben selbst verschiedene Szenen mittelalterlicher Spiele mit Standbildern und darstellendem Spiel lebendig gemacht. Wie kam es dazu?

Regina Toepfer, Professorin an der TU Braunschweig, und ihr Kollege Jörn Bockmann, Privatdozent an der Universität Kiel, veranstalten vom 16. bis 18. März 2016 in Bad Gandersheim eine Tagung zum geistlichen Spiel des Mittelalters. Die Tagung trägt den Titel „Ambivalenzen des geistlichen Spiels“ und ist Teil eines Projekts, das Schule, Wissenschaft und Kulturarbeit miteinander verbindet. „Üblicherweise finden Tagungen, relativ abgeschottet, auf einem Uni-Campus oder in einem Tagungszentrum statt. Die Öffentlichkeit nimmt kaum Notiz davon“, so Regina Toepfer zu den Schülern. „Das wollten wir aufbrechen. Bad Gandersheim kennt mit Roswitha die erste deutsche Autorin, die Dramen verfasst hat. So sind wir auch auf Gandersheim gekommen.“ Ihr Kollege ergänzt: „Wir waren ganz begeistert, wie man uns hier entgegengekommen ist. Die Zusammenarbeit mit der Stadt und den hiesigen Institutionen könnte besser nicht sein.“ Die Wissenschaftler, beide Experten für das mittelalterliche Theater, holen national und international bedeutsame Wissenschaftler nach Gandersheim, die sich drei Tage lang über neueste Perspektiven auf das geistliche Spiel austauschen. Dabei profitieren Wissenschaft, Schule und Stadtgemeinde voneinander. Die Wissenschaftler lernen in Führungen durch die Stiftskirche und Kloster Brunshausen (veranstaltet vom Portal zur Geschichte) die Stadt kennen. Auch die Schüler und Bürger können und sollen von der Wissenschaft profitieren. Ein öffentlicher Abendvortrag des Roswitha-Experten Fidel Rädle aus Göttingen und die Inszenierung von Peter Hacks ‚Rosie träumt’ mit Schauspielern der Domfestspiele durch Christian Doll gehören zum reichhaltigen Programm. Die Gandersheimer Schüler sind zu allem explizit eingeladen und freuten sich darüber.

Gruppenfoto der Seminarteilnehmer mit den Dozenten PD Dr. Jörn Bockmann (links) und Prof. Dr. Regina Toepfer (rechts).

Das eintägige Seminar im Roswitha-Gymnasium ging schnell vorbei. Schneller, als einige zuvor gedacht haben, die mit dem Mittelalter eher eine dunkle Zeit assoziierten, in dem es Theater mutmaßlich nur für reiche Bürger gegeben haben soll. Das Wissen über das mittelalterliche Theater wurde am Anfang und am Ende des Seminars erfasst und die zahlreichen neuen Erkenntnisse mit Spaß und Freude am Stoff aufgenommen. „Vor allem habe ich gelernt, was das Besondere am mittelalterliche Theater ist und wie es sich von unserem modernen Theater unterscheidet“, so ein Schüler. Eine Schülerin fand die mittelalterlichen Aufführungsformen sogar ansprechender als die modernen. Die mittelalterliche Simultanbühne, auf der alle Schauspieler gleichzeitig anwesend sind, sollte man auch bei neueren Aufführungen einmal ausprobieren. Diese Reaktion hat sogar die Dozenten überrascht und gefreut.

„Auch uns hat das Schülerseminar viel Spaß gemacht“, so Toepfer und Bockmann, zu Stefan Winzinger, der als Deutsch-Lehrer am Roswitha-Gymnasium das Seminar engagiert begleitet hat. „Das nächste Mal sehen wir uns dann zur Tagung“, so verabschiedete man sich. Ein gelungener Tag mit einer interessanten Perspektive.

 

Dozenten des Schulseminars:
PD Dr. Jörn Bockmann (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
Prof. Dr. Regina Toepfer (Technische Universität Braunschweig)